DIANA L. PAXSON

 

Wechselbälge

 

Sogleich nach der Ernte pflegte die Seherin Groa, mit Bera Steinbjornsdottir, ihrer Schülerin, an einen Ort zu reisen, wo sie den Winter verbringen konnten. In jenem Jahr, da Eric Blutaxt aus Jorvik vertrieben wurde, begaben sie sich nach Romsdalen. Das Anwesen gehörte Halvor Skjalgson, einem Mann aus Jarl Sigurds Gefolgschaft. Sein Hof lag auf guter Erde, wies viele feste, sauber gefügte Blockhäuser für Mensch und Vieh auf, zudem auch, für das Wohlergehen dieses Landes, den Grabhügel Alfs, wo man zu Zeiten der Saat und der Ernte den Geistern der Ahnen opferte.

Bera musterte den alten Hügel mit großem Interesse, als sie die Straße hochkamen, die zu der Ansammlung von bäuerlichen Gebäuden jenseits der großen Weide führte. Solche Grabhügel waren Pforten zur Welt der Unsichtbaren, in der die Geister der Toten und andere, weniger freundlich gesinnte Wesen zu Hause waren. Dieser hier war größer als die meisten: ein gut mannshoher, sanft gerundeter Hügel, mit saftig grünem Rasen versehen, aus dem bloß diese spitzen Steine stachen, die die innere Grabkammer bedeckten.

Dann schaukelte ihr Karren auch schon in den Hof hinein und Halvors Frau Borglind kam heraus, sie zu begrüßen – und mit ihr ein blondes Mädchen, das exakt Groas Augen hatte.

»Ja, das ist meine …«, beantwortete die Völva die Frage in Beras Blicke. »Ihr Vater ist Jarl Sigurd, er hat auch dafür gesorgt, dass sie hier aufgezogen wurde.«

Bera nickte, sprachlos vor Staunen. Sie hatte nicht gewusst, dass ihre Meisterin ein Kind hatte. Die Völva hatte sie wohl ein Jahr nach Gerdis’ Geburt in die Lehre genommen. Und sie fragte sich jetzt natürlich, ob wegen ihrer eigenen Vorzüge oder als Ersatz für dieses Kind …

An diesem Abend beobachtete sie die beiden, von ihrem Platz weiter unten an der Tafel, und versuchte, sich darüber klar zu werden, ob das, was sie empfand, nun Neid auf die Mutter oder Eifersucht auf die Tochter war. Beim Tod ihrer Mutter war sie nicht ganz so alt wie Gerdis gewesen.

Wenn ich ein Kind hätte, dachte sie grimmig, würde ich es ja nicht weggeben! Andere Frauen ihres Alters hatten schon zwei oder drei Kinder … Jetzt zum ersten Mal sehnte sie sich nach dem Leben, das sie aufgegeben hatte, um dem Weg ihrer Völva zu folgen.

So zwang sie sich nun, nicht mehr hinzusehen, und ließ ihren Blick schweifen – von der finster dreinschauenden Borglind, die, wenn Halvor, ihr Mann, mit Jarl Sigurd auf Reisen war, den Hof führte, hin zu den anderen Männern und Frauen dieses Gehöfts und den Leibeigenen, die hier aufwarteten. Eine von ihnen, eine blasse junge Frau mit ganz feuerrotem Haar, war hochschwanger und bereits so schwerfällig, dass sie kaum ihr Tablett tragen konnte. Als sie jetzt in den Lichtkreis des Kaminfeuers kam, sah Bera zu ihrem Erstaunen, dass ihre Haut leuchtend weiß war, ein Teint, der sich nur bei einigen Stämmen Irlands fand. Die Frau war sicher bei einem Raubzug entführt worden, wie ihre eigene Mutter auch. Doch die war eine dieser kleinwüchsigen, dunkelhäutigen Irinnen gewesen – und sie war ihr nachgeschlagen.

Sie fragte sich, ob Halvor der Vater dieses Kindes war. Und wie sie nun schaute, sah sie, dass eine der Dienerinnen sich so grob an der Irin vorüberdrängte, dass die hart gegen eine der hölzernen Säulen der Halle fiel, dabei auch das Gesicht vor Schmerz verzerrte, aber keinen Laut von sich gab … Ließ Borglind es denn zu, dass man die Ärmste so behandelte? Aber die Bäuerin verfolgte ja alles mit zufriedenem Grinsen! Dann war Halvor also der Vater, und seine Frau war eifersüchtig.

Bera hatte in diesen Jahren ihrer Reisen mit Groa erfahren, dass das nicht immer so war – König Schönhaar, hieß es, habe sich in jedem eroberten Reiche eine Gemahlin genommen. Aber sich einen Mann und eine Halle zu teilen, war nicht einfach für zwei Frauen, vor allem, wenn die eine von edler Geburt und alt, die andere aber jung und schön und eine Leibeigene war. Sicher, Borglind hatte ihrem Mann Söhne geboren – zwei von ihnen waren tot, die anderen mit ihrem Vater unterwegs. Sie konnte also schon befürchten, dass er den Sprössling der Sklavin verhätscheln würde.

Bera sah der Irin nachdenklich hinterdrein, als die – sich den Bauch haltend – aus der Halle schlich. Ob Halvor wusste, wie man mit ihr in seiner Abwesenheit umsprang? Seine Leute hier sagten es ihm aus Angst vor Borglinds Zorn wohl nicht, und sie waren der Fremden ja vielleicht selbst Feind. Aber Groa würde er glauben, sagte sie sich da. Ja, wenn sie sich heute Nacht zum Schlafen zurückzögen, würde sie die Völva um Hilfe bitten.

Doch wie die Frauen noch plaudernd und schwatzend ums Feuer saßen, kam dann eine der Mägde hereingestürzt und flüsterte Borglind etwas ins Ohr.

»Gibt es Schwierigkeiten?«, fragte Groa gleich. »Du brauchst nicht meinetwegen hier zu bleiben.«

Da schüttelte Borglind den Kopf und versetzte stirnrunzelnd: »Es ist nur eine der Sklavinnen … die kleine Schlange hat wohl eine schwere Geburt … und jetzt haben diese Törinnen es mit der Angst zu tun bekommen.«

»Die Irin?«, mischte sich Bera ein. Nun sah die Bäuerin sie so erstaunt an, als ob eine dieser Bänke, auf denen sie saßen, gesprochen hätte – wie eine von den Leuten, die Menschen von geringerem Stande kaum sehen oder sonst wahrnehmen.

»Die irische Sklavin …«, verbesserte Borglind sie. »Halvor hätte sie besser mit den übrigen verkauft!«

»Ich kenne mich wohl aus mit Geburten. Vielleicht könnte ich ja behilflich sein …«

Groa, der die Anspannung in Beras Stimme nicht entging, hob eine Braue, machte aber keine Einwände, als die Novizin nun mit der Magd, die offenbar Halla hieß, hinauseilte.

Die junge Irin lag stöhnend auf dem frischen Stroh, das man ihr da in einer Scheune aufgeschüttet hatte, und hielt sich den dicken Bauch, über dem sich ihr Kleid mächtig spannte – die grobe haarige Wolldecke, die man ihr gegeben, hatte sie längst beiseite gestoßen.

»Wie lang gehen die Wehen schon?«, fragte Bera nun, an Halb gewandt.

»Seit heute Nachmittag, glaube ich, aber sie hat sich nicht getraut, es zu sagen. Das Fruchtwasser ging ja bei dem Fest ab, seither hat sie starke, schwere Wehen … Der Herrin täte es ja nicht Leid, wenn sie die Geburt nicht überlebte, aber unsereiner erginge es übel, wenn unser Herr bei der Heimkehr zu hören bekäme, wir hätten es an Sorgfalt fehlen lassen …« Weder Mitgefühl noch Hass klang aus der Stimme der Magd. Sie ist ihr wohl nicht böse gesinnt, dachte Bera, will aber für so eine Fremde auch nichts riskieren.

»Du hast recht getan zu reden«, sagte sie. »Wyrd kann jeden Knoten lösen, und es ist ja schon vorgekommen, dass der Sohn einer Leibeigenen dann Herr im Hause seines Vaters wurde!«

Nun sah Halla nachdenklich drein, und da wusste Bera, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. Hoffentlich, denn sie brauchte die Hilfe dieser Frau! Also kniete sie sich zu der Irin und strich ihr das schweißnasse Haar glatt.

»Keine Angst, meine Liebste, wir bringen dich da durch«, hob sie an, nahm bei der nächsten Wehe ihre Hände, und da spürte sie, wie große Schmerzen die junge Frau nun litt, mochte sie sie auch stumm und ohne Klage ertragen. »Ja, ja, mo chride«, flüsterte sie ihr zu … den aus den Tiefen ihrer Erinnerung gestiegenen Ausdruck gebrauchend, mit dem einst ihre Mutter sie getröstet hatte.

Da entspannte die Ärmste sich, fasste Bera am Ärmel und brach in einen wahren Redeschwall reinster irischer Zunge aus.

Bera schüttelte bedauernd den Kopf. »Tut mir so Leid! Meine Mutter war Irin, genau wie du … Aber das ist alles, was ich von ihrer Sprache weiß. Wie heißt du?«

»Devorgilla …« hauchte die junge Frau, den Blick schon, da sich ihr Bauch in den nächsten Wehen anspannte, nach innen gekehrt.

»Gut denn, Devor … gilla« – Bera hatte Mühe, diesen Namen über die Zunge zu bringen – »versuche, entspannt zu liegen, während ich prüfe, wie offen du schon bist …«

Devorgilla schloss ihre blauen Augen, biss sich aber fest auf die Lippen, als Bera sie untersuchte – und schien sichtlich erleichtert, als die sich lächelnd wieder aufsetzte.

»Du machst das gut, meine Liebe. Es tut nur so weh, weil es so rasch geht. Sei weiter so tapfer, und du hältst sehr bald schon dein Kleines im Arm!«

Die Schöne unterdrückte ein Stöhnen und versuchte, etwas zu lächeln. Und nun beschrieb Bera die Auerochsrune über deren Bauch, legte das Gros der Kraft dabei in den Abwärtsstrich, um die Energie ihres Schoßes in die Außenwelt zu lenken und zu leiten, zeichnete dann die Seerune darüber – Spitze nach unten, damit es aus seiner Öffnung fließe, den Weg bahne – und endlich noch die Birkenrune, sprach dazu auch ein Gebet an Freya und die Mütter, vor allem. Das half wohl auch, es ging bald schneller voran als bei den meisten Geburten, und doch war Mitternacht längst vorüber, und die Flut auch, und dämmerte fast schon der Morgen, bis das Stöhnen zum Keuchen wurde, da Devorgilla mit aller Kraft zu drücken begann.

Als der Kopf ihres Kindes erschien, kniete Bera sich schnell zwischen ihre Knie – und Sekunden später hatte sie es schon, kam es blutverschmiert und schreiend auf die Welt.

»Ein Junge!«, rief Halla. »Halvor wird sich freuen! Aber der ist ja hässlich wie ein Troll … der schlägt bestimmt nicht den Romsdalenern nach.«

Die Frau hat Recht, dachte Bera, als sie das Kind auf ein leinenes Tuch legte. Sogar für ein Neugeborenes sah es doch recht zerknautscht aus – der ganze Kopf unter der schwarzen Mähne war deformiert, in die Länge gedrückt. Aber sie hatte schon hässlichere Kleine zu schönen, wohlgestalteten Kindern heranwachsen gesehen.

Sie ließ die Nabelschnur sich entleeren, verknotete sie und schnitt sie ab und reichte den Kleinen dann der Magd, damit die ihn säubere und wickle, während sie auf die Nachgeburt wartete. Devorgilla lag keuchend da, und ihr Bauch war noch fest, wenn auch nicht mehr so dick, groß und rund wie zuvor. Bera musterte sie stirnrunzelnd, drückte dann, einer plötzlichen Eingebung und Ahnung folgend, die noch straffe Bauchdecke.

»Da ist ja ein zweites Kind!«, sagte sie und suchte lächelnd Devorgillas Blick. »Du hast Zwillinge.«

Die junge Frau sah sie mit großen Augen an … und die Magd schlug das Zeichen gegen das Böse. Zwillinge waren ja nichts Unbekanntes, aber etwas Ungewöhnliches und Unheimliches, ob im Guten oder im Bösen.

»Liegt es quer?«, fragte Halla und sah Bera bei der erneuten Untersuchung über die Schulter. »Das bekommst du nie lebend heraus …« Beras scharfer Blick ließ sie verstummen.

»Ich habe ja schon bei der Geburt von Zwillingskälbchen und Zwillingslämmern geholfen. Das dürfte auch nicht viel anders sein. Du musst versuchen, dich zu entspannen«, sagte Bera und sah Devorgilla wieder an, »während ich das Kind drehe.« Und damit beschrieb sie eine Hagelrune über ihrem Schoß, um den Energiestrom zu ändern.

Doch dieses Kleine, das es vielleicht genoss, im Bauch seiner Mutter endlich einmal genug Platz zu haben, hatte es nicht eilig herauszukommen. Und so fettete Bera sich, als sie mit sanftem Druck nichts erreichte, ihre, Gott sei Dank!, kleine, schmale Hand ein und arbeitete sich damit den Geburtskanal hoch. Eine Kontraktion, die ihren Arm immobilisierte, ließ sie aufkeuchen. Nach einem schrecklichen Moment aber bekam sie den einen, dann den anderen winzigen Fuß zu fassen, und dann zog sie, mit einem erneuten Stoßgebet an Freya, sanft daran … Devorgilla schrie auf, und da kam ihr zweites Kind auch schon in einem Rutsch ans Licht der Welt.

Es war ein Mädchen – aber so fahl und schlaff, dass Bera für einen entsetzlichen Augenblick befürchtete, zu spät gekommen zu sein. Schnell säuberte sie ihm Mund und Nase, hielt es an den Füßchen hoch empor – und wurde mit einem dünnen Greinen belohnt, als es zu atmen begann … Das Mädchen war so hübsch, so glatt, wie der Junge verknautscht und hässlich gewesen war, und als Bera es vollends gereinigt hatte, sah sie, dass es fein gespitzte Ohren hatte. Es ist so schön wie eine vom Völkchen der Haldre, dachte sie und lächelte dabei. Aber es hatte einen festen, glatten Rücken, und von einem Loch oder Schwänzchen war nichts zu sehen.

Also wickelte sie das Kind vollends, legte es seiner Mutter an und schob ihm eine Brustwarze in den winzigen Mund, bis es, wie sein Brüderchen, zu saugen begann und das klägliche Weinen einstellte.

»Die heiligen Götter mögen dich beschützen!«, flüsterte Bera und schrieb auf jede seiner winzigen Brauen die Siegesrune. »Willkommen auf dieser Welt!«

»Beide am Leben und dürften es auch bleiben, wenn sie genug Milch für sie hat«, meinte Halla. »Du hast dein Handwerk wirklich gelernt.«

»Meine Völva ist eine weise Frau und hat das Ohr des Jarls. Halvor wird ihr auch zuhören, wenn sie von dem Besuch hier erzählt«, erwiderte Bera gleichmütig und gelassen. »Es wäre also gut, nicht wahr, der Mutter und ihren Kindern ein schönes, warmes Bett zu bereiten, damit sie ihn alle drei bei seiner Heimkehr begrüßen können.«

Halla verstand ihren Hinweis wohl, und so war, als die Sonne dann über die Hügel schaute, Devorgilla mit ihren Zwillingen im Gesindehaus in einem Kastenbett untergebracht – an dessen einen Pfosten man, zur Abwehr der Haldre, einen Eisenbarren hing, denn die Kinder gehörten, solange ihr Vater sie nicht benannt und mit Wasser bespritzt hatte, um sie in der Sippe willkommen zu heißen, noch nicht unwiderruflich zur Welt der Menschen.

Das übrige Gesinde ging zur Arbeit hinaus und überließ Bera die Wache am Bett der jungen Mutter, die, mit ihren Kindern neben sich, tief und fest schlief. Und da es still geworden war in der Kammer, fühlte auch die von der Arbeit der Nacht erschöpfte Novizin, wie ihr die Augen so schwer wurden, und schlief dann im Handumdrehen selbst ein.

 

Bera nahm den kleinen Jungen aus dem Körbchen, das ihm Wiege war, legte ihn an ihre Schulter und klopfte ihm dann auf den Rücken, bis sein quengeliges Geweine zum Schluckauf wurde. Er wog kaum mehr als eine Katze, und sein seidiges Haar am Hals zu spüren war ein Genuss. Jetzt drehte er den Kopf, spitzte erwartungsvoll den kleinen Mund und saugte leer, dass es eine Art hatte.

»Schau doch, wie er seine Nahrung sucht!«, sagte Bera und lachte. »Er wird bestimmt einmal ein Krieger.«

»Ist er schon wieder hungrig?«, fragte Devorgilla. »Aber ich habe ihn doch gerade gestillt …«

Drei Tage nach der Geburt hing ihr der Bauch noch immer wie ein leerer Sack, aber ihre Wangen zeigten ungewohnte Farbe. Die Milch war eingeschossen, und nun kam sie von Tag zu Tag mehr zu Kräften. Auch ihre beiden Kleinen schienen sehr dem Leben zugewandt, obwohl sie ja fast den ganzen Tag über nur geschrien hatten.

»Manche Säuglinge sind so«, sagte Halla, die sechs zur Welt gebracht hatte. »Immer am Weinen … während andere von den Nornen mit Zufriedenheit und der strahlendsten Laune begabt werden. Aber auch die Schreihälse können gedeihen, wenn sie genug zu trinken bekommen.«

Das Mädchen war eingeschlafen. So legte Bera den Jungen der Mutter an die Brust, worauf er auch gleich gierig zu saugen begann.

»Du musst dich ausruhen«, sagte sie, »und die beiden stillen, wenn sie schreien … Hat Borglind dich wieder an die Arbeit schicken wollen?«

Devorgilla schüttelte den Kopf. »Nein, sie ist ganz freundlich zu mir gewesen. Sie hat mir eine gute Suppe geschickt.«

Bera zwinkerte erstaunt. Aber vielleicht fürchtete die Frau ja die Reaktion ihres Mannes für den Fall, dass die Kleinen starben! Sie sah auf diese beiden Köpfchen hinab, blond das eine und schwarzhaarig das andere, und da verschwamm es ihr vor Augen. Wenn sie denn dazu bestimmt war, weder Mann noch Kind zu haben, konnte sie doch wenigstens helfen, dass diese beiden Kleinen groß würden.

 

Ich hatte ihr leicht sagen, sie sollte sie stillen, wenn sie greinen, dachte Bera, als sie das frisch gewickelte Mädchen wieder in die Wiege legte. Aber die zwei hatten die letzten drei Tage ja nur geschrien! Sie tranken Devorgilla bei jedem Stillen die Brüste leer und schrien dann nach mehr. Aber es war sonst keine Frau auf dem Hof, die gestillt hätte und ihr als Amme hätte beispringen können. So schrien die zwei, und ihr dünnes Gejammer erfüllte das Gesindehaus und drang sogar bis zur Halle.

Einige begannen finster zu raunen, es sei doch nicht normal, wenn eine Frau wie ein Tier mit einem Wurf niederkomme! Von neugeborenen Zwillingen überlebten selten alle beide – wenn diese Irin also nicht alle beide satt bekam, war es wohl am besten, nur das kräftigere zu behalten, das andere aber auf dem Grabhügel auszusetzen. Und solange sie noch keine Namen hatten, waren sie auch nicht wirklich Menschen und war es denn kein Verbrechen, eines sterben zu lassen … So etwas machte man nicht häufig so, aber in Hungersnöten und Zeiten großer Armut, oder wenn das Kind missgebildet war, fügte man sich in die Notwendigkeit. Bloß Borglind sagte nichts, ließ nur weiterhin der jungen Mutter schüsselweise Fleischbrühen und guten Eintopf bringen, bis Bera sich endlich fragte, ob die ihr denn wirklich so feindselig gesinnt sei, wie sie ja anfänglich gemeint hatte.

Bera tat, was sie konnte, um dies Geraune zum Verstummen zu bringen; aber das ständige Kindergeschrei ging auch ihr auf die Nerven. Doch als sie sich bei dem Gedanken ertappte, es wäre vielleicht doch besser, wenn eines der beiden stürbe – bekam sie doch einen Schreck.

»Erschreckt dich das, weil du sie zur Welt gebracht hast?«, fragte Groa. »Ich habe vielen mit auf diese Welt verholfen, und manche blieben am Leben, andere nicht. Das fällt nicht auf dich zurück.«

»Aber sie sind alle beide kerngesund! Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass eines nicht am Leben bleibt. Doch wenn auch ich ihr Geschrei schier unerträglich finde, muss ich mich da nicht fragen, ob nicht jemand vom Hof … vielleicht um die Gunst der Herrin zu erringen … ihnen etwas antun könnte?«

Nun legte Groa das Halstuch, das sie bestickt hatte, in den Schoß und musterte sie nachdenklich. »Ich habe hier Gerdis als Hilfe. Du bist eine erwachsene Frau, Bera, und hast das meiste von dem, was ich dir beibringen kann, schon gelernt. Wenn du also diese Leibeigene pflegen willst, hast du meine Erlaubnis dazu.«

Bera stammelte ihr »Danke! Danke!« – aber das Vertrauen der Völva in ihr Können mehrte ihre Angst eigentlich noch. Groa hätte sie von ihren Pflichten doch nicht entbunden, wenn sie nicht ihr Gefühl teilte, dass es Anlass zu Befürchtungen gab. Wenn nur Halvor zurückkäme!

Aber der Herr des Hofes kam nicht nach Hause. Statt seiner kam Borglind, die Stirn sichtlich mitfühlend gerunzelt, am neunten Tag ins Gesindehaus, um Devorgilla zu sprechen, die, hoch aufgestützt und das Haar wie eine Flamme über das grobe Linnen gebreitet, in ihrem Kastenbett lag.

»Es ist mir zu Ohren gekommen …«, begann sie und ließ einen Blick über die beiden Kleinen in ihren Körbchen huschen, der Bera erstarren ließ, »dass deine Kinder nicht recht gedeihen. Sie weinen ständig, heißt es, und seien schwach und dünn.«

Da verzog das Bübchen, wie um das zu bestätigen, das dunkle Gesicht und fing zu schreien an … Bera nahm ihn gleich hoch und bettete ihn an ihre Schulter. Das kleine Mädchen jedoch, mit seiner bleichen, fast durchsichtigen Haut, lag so ruhig und still und musterte sie alle mit seinen unergründlich grauen Augen.

»Das ist ja normal, dass sie in den Tagen nach der Geburt vom Fleisch fallen. Aber sie legen wieder zu, sobald meine Milch kräftiger fließt!«, protestierte Devorgilla. Doch die Herrin hieß sie mit einem Blick schweigen.

»Tatsächlich, wie du sagst, waren sie bei der Geburt gesund und munter«, versetzte Borglind. »Ich will deinen Kindern ja nichts Böses … wenn sie denn deine Kinder sind …«

Eine Stille voll bohrender Blicke trat ein. Auf den Vorwurf, das seien gar nicht Halvors Kinder, war Bera gefasst gewesen – aber das! Worauf wollte dieses Weib jetzt hinaus?

»Ich habe sie ja selbst zur Welt gebracht«, mischte sie sich ein, »und schwöre bei Thors Ring, dass sie die ihren sind.«

»Sicher, du hast ihre Kinder auf die Welt gebracht«, sprach Borglind. »Aber sind die es da denn noch? Es geht jetzt das Gerücht um im Hof, das seien Wechselbälge!«

»Unmöglich!«, fuhr Bera auf. »Wir haben doch Eisen übers Bett gehängt und haben Devorgilla nie allein gelassen.«

»Mag sein, dass du das hast, aber ich sehe es da nicht mehr«, erwiderte Borglind und zeigte zum Bett, und in der Tat: Die Schnur, an der der Eisenbarren gehangen hatte, war zwar noch da, er selbst aber nicht mehr. »Habt ihr nach der Geburt etwa nicht geschlafen, du und Devorgilla, als das restliche Gesinde bei der Arbeit war und ihr beide allein wart?«

Ja, das war wohl wahr. Doch Bera hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als das zuzugeben. »Frau, zweifelst du an meinem Wort?«, fuhr sie dafür auf – ganz wie sie es bei Groa gelernt hatte. »Ich bin zwischen den Welten gewandelt, habe dem Volk der Unsichtbaren auf seinem eigenen Boden getrotzt. Ich habe diesen Raum vor der Geburt abgeschirmt, und wenn hier etwas Unseliges eingedrungen wäre, sei es während meines Schlafes, hätte ich es bemerkt.« Das glaubte sie wirklich, oder besser gesagt … das hoffte sie, und auch, dass sie sich nicht aus Stolz und Hochmut selbst täuschte.

»Das mag sein, aber es bringt ja nichts Gutes, Wechselbälge aufzuziehen, und ich würde meine Pflicht, meine Schuldigkeit gegenüber meinem Mann verletzen, ließe ich es zu, dass er ein Kind der Unsichtbaren als sein eigenes aufzöge!«

»Wenn es Wechselbälge wären«, warf Halla ein, »müsste man die Haldre dazu bringen, sie zurückzunehmen … Der Cousine meiner Mutter haben die Hügelleute ein Kind geraubt, und sie hat es heil und unversehrt zurückbekommen.«

»Aber woher wussten sie das?« – »Wie haben sie es angefangen?«, rief plötzlich alles durcheinander.

»Man legt das Kind auf den Boden und kehrt darum herum, drei Nächte hintereinander, nicht wahr?«, sagte Bera sogleich, um die Situation wieder in den Griff zu bekommen. »Aber in der dritten Nacht schafft man das Kind samt dem Kehricht hinaus auf den Müllhaufen. Und dann kommt die Haldremutter mit dem gestohlenen Kind und beschwert sich, dass man mit dem ihrigen so übel umspringe, wie sie es mit dem fremden nie getan, und dann kann man den Tausch rückgängig machen!«

»Doch!«, rief Halla und nickte nachdrücklich. »Genau so habe ich es auch gehört!«

Bera erwiderte Borglinds Blick mit ruhigem, glattem Lächeln. Den Kindern würde es ja nicht schaden, wenn man sie auf den Boden bettete. Es gab andere Wechselbalgproben, die weniger schonend waren – darunter auch welche mit Feuer oder Wasser. Ihr Lächeln beruhigte auch Devorgilla, die, mit der Kleinen an der Brust, bereits ängstlich von einer Frau zur anderen geblickt hatte …

»Sollen wir das dann machen?«, fragte Bera und lächelte eine Spur breiter, als Borglind bloß den Mund öffnete und wieder schloss, da ihr offenbar kein Gegenargument einfiel. »Halla, bring mir doch einen Besen!«

Am nächsten Morgen aber wurde Bera klar, dass sie die Gefahr nur aufgeschoben, aber nicht aufgehoben hatte … Denn indem sie sich bereit erklärt hatte, Devorgillas Zwillinge dieser Probe zu unterziehen, hatte sie stillschweigend eingeräumt, Borglinds Vorwurf könnte berechtigt sein – und das genügte, die bösen Zungen auf viele Meilen im Umkreis in Bewegung zu setzen.

»Die Hälfte der Leute glauben ja jetzt schon, dass die Kinder vertauscht sind – und die bleiben dabei, ob nun eine Trollin erscheint, sie zurückzuholen, oder nicht«, sagte sie in der Nacht, als sie, nach dem zweiten Kehren, zu Füßen der Völva vor dem Kamin saß und die Wärme des Kohlenfeuers genoss, die nun, im schon recht vorgerückten Herbst mit seinen frischen Nächten, doch überaus willkommen war.

»Bist du dir denn so sicher, dass die Kinder Menschen sind?«, fragte die Seherin darauf.

»Ich habe sie gewaschen und gewickelt, kaum dass sie aus der Mutter Schoß gekommen waren. Ich kenne jedes Haar auf ihren Köpfen … Und mein Fleisch kennt sie, Groa, als ob sie meine eigenen wären!«

»Aber es sind nicht deine. Vergiss das nicht, wie immer auch die Dinge hier ausgehen mögen!«

Bera nickte. »Ich werde das nicht vergessen«, beteuerte sie, löste ihren Blick dann von dem ihrer Meisterin und richtete ihn auf die an der Wand aufgehängten Figuren und Figürchen. Liegt es am Flackern des Lichts, fragte sie sich, oder aber am leichten Luftzug, dass sie sich zu bewegen scheinen? Und sie sagte sich, dass es nun auf ihre persönlichen Gefühle nicht ankam, solange nur die Zwillinge überlebten.

»Ein Gutes hat das aber doch gebracht«, fuhr sie dann fort. »Als Borglind sich plötzlich so freundlich verhielt, hatte ich keinen Grund, ihr zu misstrauen, aber jetzt, da sie ihre Feindseligkeit offen gezeigt hat, frage ich mich schon, was denn in diesen Suppen und Eintöpfen war, die sie Devorgilla mit so viel Mühe und Sorgfalt gekocht hat. Sicherlich war es auch kein Haldre, der mein übers Bett gehängtes Stück Eisen wieder entfernt hat! Halla und ich sehen nun darauf, dass die Irin nur das isst, was wir für sie zubereitet haben, und wir geben den beiden Kleinen ein bisschen Ziegenmilch zu trinken, bis ihre Brüste selbst mehr hergeben. Sie schlafen ja jetzt schon besser!«

»Vielleicht wird das die Zweifler zufrieden stellen«, meinte Groa, aber doch wohl ohne rechte Überzeugung.

»Und wenn nicht, hilfst du uns dann mit deinen Kräften und Mächten?«, fragte Bera und sah wieder zu ihrer Lehrerin hoch, ihr auch in die Augen.

»Meine Mächte?« Groa hob leicht eine Braue, und ihr Gesicht wirkte in diesem unsteten Licht mal jung und schön, mal steinalt. »Du bist bereits fünf Jahre bei mir, Mädchen. Hast du dabei überhaupt nichts gelernt? Meine Talente sind wenig wert, wenn die Leute nicht an mich glauben. Und hier bin ich nicht die Völva, die mit den Unsichtbaren verkehrt, sondern die Mutter von Gerdis. Und um ihretwillen muss ich neutral bleiben, wenn ich kann.«

Wenn du kannst?, dachte Bera und umfasste ihre Knie. Und nach einer Zeit, da seufzte Groa schwer und sprach: »Wenn du in Gefahr kommst, muss ich dir helfen. Denn auch du bist meine Tochter …«

Dann sind diese Zwillinge deine Enkel, dachte Bera grimmig, denn ich liebe sie so, als ob sie meine Kinder wären. Aber das sprach sie nicht laut aus.

In der dritten Nacht legte man die Zwillinge zum dritten und letzten Mal auf die groben Dielen. Dann fegte Devorgilla um sie herum, sorgsam, wie um den Moment hinauszuzögern, da man die Kleinen in die Kälte hinaustrüge. Bera sah ihr dabei zu, hin- und hergerissen zwischen Mitgefühl und Verzweiflung. Befürchtete die junge Frau denn, dass die Kleinen da wirklich Wechselbälge waren? Wie auch immer – je früher sie es hinter sich gebracht hätten, desto besser.

Die Hofbewohner verfolgten es mit kaum verhohlener Erregung. Die Geschichte wäre im gesamten Bezirk herum, bevor ein Mond ins Land gegangen war, und so ein Augenzeugenbericht sollte beim nächsten Jahrmarkt doch wohl für ein, zwei Gläser Freimet gut sein! Aber Beras Anwesenheit bremste die meisten so weit, dass sie nur durch Tür und Fenster verfolgten, wie Devorgilla die warm verpackten Zwillinge mit dem Kehricht zusammen in einen Korb tat und hinaustrug. Bloß Borglind und Bera begleiteten sie, als Zeugen.

Wenigstens wird die natürliche Hitze dieses Dunghaufens sie warm halten, dachte Bera, als die Irin die beiden Säuglinge ablegte und den Kehricht rings um sie ausschüttete, und sie sind ja noch zu klein, um sich irgendetwas in den Mund zu stecken! Aber natürlich, und wie vorhersehbar, begannen sie laut zu weinen, sobald die Mutter sich etwas entfernte. Die Mutter weinte auch, aber still und lautlos, und bedeckte ihr Gesicht mit einem Schal. Das war aber, den Geschichten zufolge, der Augenblick, da die Haldrin erscheinen sollte, um sie zu rügen und die geraubten Menschenkinder zurückzugeben. Aber nichts geschah, nichts regte sich.

Dafür verstummten die beiden Kleinen. Scharf hoben sich nun die Gebäude gegen die düstere Linie des Waldes jenseits der Felder und Wiesen ab. Alles wirkte unwirklich im Schein der Sterne, sogar Borglind, die nur noch ein verhüllter Schemen war, der im Scheuneneck wartete. Eine Eule rief, dann noch einmal, von irgendwo weiter entfernt kam Fuchsgekläff – und die Hunde des Hofes antworteten im Chor darauf. Dann machte sich wieder die Stille breit, unsichtbar wie die Wesen, auf die sie vergeblich warteten, genau wie Bera es sich gedacht hatte.

Also räusperte sie sich endlich und trat einen Schritt vor. »Devorgilla hat getan, was man von ihr verlangt hatte. Lasst uns also diese Kinder wieder ins Haus bringen, wo sie doch hingehören.«

»Die Trollfrau ist nicht gekommen«, versetzte Borglind, mit angespannter Stimme. Dann trat auch sie vor, und Devorgilla, die da unweit des Müllhaufens gekauert hatte, richtete sich auf.

»Nein«, wiederholte Bera geduldig. »Diese Kinder gehören ja auch nicht ihr.«

»Dann sind sie noch etwas Schlimmeres! So schlimm, dass auch die Haldre sie nicht haben wollen«, schrie Borglind da, »so böse wie diese rothaarige Hexe, die meinen Mann in ihr Bett gelockt hat! Ich muss ihn, euch alle vor dem Bösen schützen! Die Trollbrut muss auf den Grabhügel!«

Ihre Bosheit war jetzt offenbar! Doch für die Leute, die das hörten, war das einerlei, denn sie war in Abwesenheit ihres Mannes die Herrin hier … Bera hörte schon diesen gierigen, grollenden Unterton in ihrem Gemurmel und Geflüster, und da erschauderte sie. Sie hatte ihn letzten Sommer gehört, aus einer Menge, die der Exekution eines Mörders beiwohnte! Man hatte Wunder erwartet – aber die Geschichte einer Tragödie wüsste man winters am Feuer auch zu goutieren. Schon schrie Devorgilla auf, da Borglind die greinenden Kleinen unsanft wieder in den Korb packte, und Halla hielt die unglückliche Mutter zurück … Bera zwang sich, nicht nach den Kindern zu greifen, wusste sie doch, dass man ihr in den Arm fiele, ja, vielleicht ans Leben ginge, wenn sie sie mit Gewalt an sich zu bringen suchte.

»Eine Nacht!«, rief sie nun im höchsten Tone, um den Lärm zu übertönen. »Überlasst sie eine Nacht den Alten Einen … und wenn sie dann nichts Unseliges holt oder tötet, wissen wir, dass sie von den Göttern geschützt und gesegnet sind!«

»Hört auf die weise Frau!«, rief da jemand. »Eine Nacht …«, nahmen andere diesen Ruf auf. »Das ist nur billig. Wenn die Kleinen am Morgen noch leben, wissen wir, dass sie Menschen sind!«

 

So kurz vor Winteranfang ging der Wind schon kalt. Doch Bera traute sich nicht, umzudrehen, sich einen wärmeren Umhang zu holen. Sie bemühte sich, sosehr sie auf diesem Stoppelfeld auch rutschte und trotz ihrer kürzeren Beine, mit der weit ausgreifenden Borglind Schritt zu halten. Der Grabhügel hob sich riesig und fahl gegen den dunkleren Waldrand ab. Wo die Steine durch den Rasen drangen, war gähnende Schwärze – der Eingang zum Grab. Für einen Augenblick war ihr, als ob ein Licht darüber blinke. Sie blinzelte, nun sah sie es wieder: Das Hauga-Eldrinn, jenes gespenstische Flämmchen, das über verborgenen Schätzen flackert. Aber derlei Flammen wärmten ja leider nicht.

Lass sie die Kleinen wenigstens im Schutz der Steine ablegen, betete Bera, die hier alles Übernatürliche weniger fürchtete als die Kälte, und seufzte erleichtert, als die Ältere sich bückte und den Korb in den Eingang schob. Daraus drang ein dünnes Geschrei, das in der kalten Nachtluft klar zu hören war. O Freyr und Freya, als Zwillinge geboren und zweimal heilig, flehte Bera da, beschützt sie!

Borglind richtete sich auf, schickte sich an zu gehen, hielt dann aber inne, als sie Bera noch warten sah.

»Geh zurück. Du hast kein Recht, dich einzumischen.«

»Ich habe diese Kinder in die Welt gebracht. Du kannst mich morgen früh aus der Tür weisen, aber diese Nacht bleibe ich bei dir, um dich an dein Versprechen zu binden.«

»Du wagst es …« hob Borglind an, aber Bera schnitt ihr beredt das Wort ab:

»Lass mich Zeugin sein, damit ich um deiner Ehre willen dann Zeugnis gebe. Es werden deinem Gemahl bei seiner Rückkehr ja viele vom Werk dieser Nacht berichten.« Das machte Borglind, wie erhofft, nachdenklich. Also fuhr Bera fort: »Die Götter werden über das Los dieser Kinder entscheiden.«

»Gut denn«, gab Borglind sich plötzlich geschlagen. »Dort am Rand des Feldes ist ein Schuppen. Da können wir warten.«

 

Bera hatte gehofft, bei ihrer langen Nachtwache Gelegenheit zu finden, Borglind umzustimmen. Die setzte aber eine so abweisende Miene auf, dass Bera nicht einmal den Mut fand, sie anzusprechen. Im Windschutz der Hütte war es aber zu ihrer Erleichterung nicht mehr annähernd so kalt. Sie hatte keine Ahnung, was Borglind durch den Kopf ging, aber ihre eigenen Hoffnungen hinderten sie nicht daran, diese Zeit im stummen Gebet zu verbringen. Sie hatte ja immer die Götter verehrt, sich aber vor allem während der Arbeit bei der Völva an sie gewandt. Dass sie sich etwas heiß genug wünschte, um sich in eigener Sache an sie zu wenden, war lange her. Aber, dachte sie, sie sollte sich nicht nur an die Götter, sondern auch an die Alfs des Grabes und an den Disir wenden, der Halvors Sippe von alters her beschützte.

Hin und wieder spähte sie angestrengt nach dem Hügel – aber außer den Sternen, deren Gang ihr das Verstreichen der Zeit anzeigte, bewegte sich nichts. So langsam wurden ihre Gebete nun weniger verzweifelt, und mit dem Ruhigerwerden wurde sie auch offener, um, wenn nicht Antwort, so doch einen gewissen Frieden zu finden … Zu viel davon, vielleicht, sank sie doch in der grauen Stunde vor dem Morgen in Schlaf.

Es war kein Geräusch, sondern das Fehlen eines solchen, was sie aus dem Traum von weiß gewandeten Frauen weckte, die um den Grabhügel tanzten – das gleichmäßige Atemgeräusch ihrer Begleiterin war nicht mehr zu hören. Borglind war fort, aber der Boden, auf dem sie gehockt, noch lauwarm. Bera rieb sich die Augen – und sah eine gespenstische Gestalt durch die am feuchten Feld klebenden Nebel huschen. Sie sprang mit einem halblauten Fluch auf und stolperte hinter ihr her.

Da sah sie Borglind am Eingang zum Hügel stehen bleiben, hörte ein dünnes Geschrei und sah, wie die ältere Frau sich mit ihrem weiten Umhang zu schaffen machte. Um die Kleinen zuzudecken? Nein, um sie zu ersticken!

Bera schrie laut auf vor Furcht und Wut, rannte los wie eine kleine, zornige Bärin … Aber da sie auf Borglind einsprang, wich die zur Seite. Bera bekam sie am Arm zu fassen, und ihr Schwung brachte sie beide zu Fall. Die junge Frau war sofort wieder auf, auf den Knien, kampfbereit … Aber Borglind lag, wohin sie gefallen, stieß nur seltsame, halb erstickte Laute aus, wies dabei mit weit ausgestreckter, zitternder Hand auf den Grabeingang.

Das ist bloß der Nebel, der ist so dick und zäh, sagte Bera der gesunde Menschenverstand. Doch die Magierin in ihr, die sagte etwas anderes. Jener Nebelfetzen hatte eine Form, und die wurde zusehends handgreiflicher … bis Bera hinter dem Weidenkorb, in dem die Zwillinge lagen, einen Krieger sitzen sah, der nach Art und Weise der Alten behelmt und gewappnet war und sein blankes Schwert quer über den Schenkeln liegen hatte.

Eine Weile starrte sie ihn einfach an … Der Geist erwiderte ihren Blick, und er war in jeder erdenklichen Weise wie ein lebendiger Mensch, nur dass er eine Blässe an sich hatte und etwas Fremdartiges in den Augen – keine Leere, sondern eine kaum fassbare Lebhaftigkeit. Bera schluckte. Was immer er war … er schien bereit zu sein, ewig so stumm zu warten und zu starren.

»Bera heiße ich, Tochter von Steinbjorn bin ich«, flüsterte sie da, eingedenk ihrer Ausbildung. »Ich wandle zwischen den Welten, habe mit gewaltigen Mächten gerungen. Sag an, Geist, der hier am heiligen Hügel haust, bei welchem Namen nenne ich dich?«

Da richtete sein unheimlicher Blick sich zum ersten Mal ganz auf sie, und sie erbebte, wich aber nicht von der Stelle.

»Halfclan bin ich, Sohn von Ulfgrün und mit Halvor über viele Väter verwandt. Lange schon wache ich über dieses, mir teure Land.« Jetzt sah er ihr fest in die Augen, und da vernahm sie in sich die ganze lange Geschichte jener Jahre. »Warum«, schloss er dann, »wendest du dich an mich?«

»Um der Zwillinge willen, die ich in Sicherheit wissen muss.«

Er fixierte Borglind … und die wimmerte und bedeckte ihre Augen.

»Du hast sie eben nicht gut behütet, aber ich habe über sie gewacht, während die Welt auf den Morgen zuging.«

Bera errötete. Doch dann kam ihr ein Gedanke:

»Wenn Sunna aufgeht, bringe ich sie der Mutter zurück. Aber sie sind noch nicht gesegnet, mögen sie auch wachsen und gut gedeihen. Sage an, Geist, der du die Anderwelt gesehen hast, sage an, ob sie wirklich von menschlicher Art sind.«

Noch schien Halfclan von fester Gestalt, doch schon begann da ein Wind den Nebel vom Feld zu heben.

»Aus meinem Stamme sind diese Kinder wahrhaftig entsprungen«, sprach er lächelnd, »mag auch ihr Vater fern noch sein. Als Stammvater erhebe ich Anspruch auf sie und gebe ihnen diese Namen …« Damit beugte er sich über das Mädchen, schlug ein Zeichen über ihrer Stirn. »Alfhild heiße sie, denn sie zu schützen, greift Alf zu den Waffen. Und der heiße Alfhelm, denn sein Haupt steht unter meinem Schutz …«, sprach er und segnete den Jungen.

Und in diesem Moment kam die Sonne über den Wald.

Die plötzliche Helligkeit ließ Myriaden von Wassertröpfchen blitzen, sodass Bera völlig geblendet war. Als sie wieder etwas sah, war Alf verschwunden. Ganz verwirrt, dachte sie einen Moment lang, das alles nur geträumt zu haben. Aber die Weise von Halvors Stamm klang in ihrem Gedächtnis wieder, und die Zwillinge, ihr Korb und die Tücher, in die sie gehüllt waren … waren ganz trocken. Nur dass auf jeder der kleinen Brauen ein paar Tautröpfchen glitzerten.

»Alfhild, Alfhelm! Seid willkommen in der Welt!«, flüsterte sie, hob die Zwillinge sorgsam aus dem Korb und knüpfte sie sicher in ihren Umhang ein. Und sie weinten und sie schrien nicht, sondern suchten, sobald sie ihre Wärme spürten, bloß hungrig und gierig nach ihrer Brust. »Am besten, ich bringe euch zu eurer Mutter zurück, ihr Kleinen!«

Borglind lag noch still und reglos, wohin sie gestürzt war. Wenn sie sich wieder erholt hätte, würde sie Beras Bericht vielleicht infrage stellen … aber das von Alf empfangene Wissen wäre wohl Beweis genug dafür, dass die Zwillinge von Halvors Stamm waren. Und doch kam es Bera in den Sinn, wie sie so mit den beiden über das Feld zurückging, als ob alle Kinder Wechselbälge wären: strahlende Geister, wiedergekehrt … von wo auch immer sie zwischen den Leben weilten … um den verletzlichen Leib eines Kindes in einer unfreundlichen Welt zu bewohnen.

Der Abschied von den Zwillingen fiele ihr schwer, wenn sie mit Groa weiterzöge. Aber die zwei bräuchten sie nicht, sie hatten ja ihre Sippe gefunden. Und ihr eigener Weg, das war ihr jetzt klar, führte woanders hin.

Ich war ein Wechselbalg, dachte sie, unter Fremden geboren, mit Gaben und Talenten, die ihnen unverständlich waren. Und Groa hat mir dann eine Familie gegeben …

Silberschwester - 14
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